Strömungen/Trends der chinesischen
Gegenwartsliteratur
1. Kultliteratur
(der Autor als Popstar, Teenie-Phänomen): Guo Jingming, Tränen gegen
den Strom; [bisher von deutschen Verlagen und staatlicher chinesischer
Literaturförderung übersehen]
2. Vagabundenliteratur(auch Pekinger Form der Literatur
der
Mega-Cities): Xu Zechen, Im Laufschritt durch Peking
3. Kritische Surrealität
/ Magischer Realismus: Han Han, Tage des Ruhms
4. Frauenliteratur (auch
Shanghaier
Form der Literatur der Mega-Cities): Bi
Shumin, ...
5. Skandalliteratur: Mian Mian: Pandasex
6. Meistererzählungen:
Liu
Zhenyun, Taschendiebe; Mo Yan, Der Überdruss
7. Nostalgie-Literatur
(Neuinterpreation von Klassikern): Yu Dan, Konfuzius im Herzen
8. Literatur des seelischen Notstandes:
Mo Yan, Die Sandelholzstrafe
Phänomene
- Der Trend zum Zweitbuch
- Erst im Ausland berühmt, dann im Inland vereinnahmt
Desiderata: Klassiker
- Cao Xueqin: Der Traum
der Roten Kammer (längst
überfällige
Erstübersetzung erscheint zur Buchmesse auch als Paperback vom
Europäischen Universitätsverlag)
- Qian Zhongshu: Notizen am Rande des Lebens geschrieben (liegt in
Übersetzung vor, noch kein Verlag gefunden)
- Jia Pingwa: Die verrottete Hauptstadt (liegt in fast vollständiger
Übersetzung vor)
Die Zerrissenheit der chinesischen Gegenwartsliteratur
"Chinesische Literatur ist unübersetzbar!" so scheint es zunächst, wenn
man die Bestseller-Listen in China durchschaut und entdeckt, dass kaum
einer der Titel auf der Frankfurter Buchmesse auftaucht. Die wenigen
Bücher, die es auf Deutsch gibt, sind entweder Sachbücher über
Konfuzius (Konfuzius im Herzen), unumstrittene Klassiker wie der Traum
der Roten Kammer, Tang-Gedichte oder Sunzis Kriegskunst oder es sind
völlig skurile Geschichten von einer absurden "Philosophie der Wölfe",
die sich aber in China nicht auf den oberen Plätzen der
Bestseller-Listen wiederfinden. Hatte der deutsche Sinologe Wolfgang
Kubin Recht, der im Dezember 2006 in einem Interview mit der Deutschen
Welle die chinesische Gegenwartsliteratur seit 1949 kritisierte und
Werke der Autorinnen Wei Hui und Mian Mian "Müll" nannte? Chinesische
Literatur ist tatsächlich etwas anders, aber dennoch für den deutschen
Leser interessant. Die Top-Plätze der Bestsellerlisten nehmen junge
Autoren wie Guo Jingming ein. Seine ergreifende Geschichte einer
Mutter, die sich für ihr Kind prostituieren muss, hat sich in China 11
Millionen Mal verkauft. Von diesen Auflagen träumen deutsche Verlage
nur. Dennoch 'funktionieren' chinesische Romane nicht automatisch in
Deutschland, da sie in einer anderen Lebenswirklichkeit spielen. Und
die chinesische Literatur hat einiges nachzuholen, da sie sich zuletzt
in den 1920er und 1930er Jahren frei entwickeln konnte und Größen wie
Lu Xun hervorgebracht hat. Doch genau wie Lu Xun von den Kommunisten
vereinnahmt wurde, gab es seit 1949 nur noch Tendenzliteratur, und
diese war qualitativ schlecht. Diese Fesseln werfen chinesische Autoren
seit der Öffnung 1982 ab, vor allem junge Autoren. Und diese spüren den
Heißhunger der Leser, wollen unbedingt all das nachholen, was es im
Westen schon lange gibt. Und so gibt es gleichzeitig unterschiedliche
Entwicklungen in der chinesischen Gegenwarts-Literatur, wie Kult-,
Vagabundenliteratur, Kritische Surrealität, Frauen-, Skandalliteratur
und Meistererzählungen, Nostalgie-Literatur als neuer Sinnstifter in
einer Zeit des Ideolgie-Vakuums und schließlich auch die Literatur des
seelischen Notstandes, wie die perverse "Sandelholzstrafe" des
bildreichen und pathetisch-wortgewandten Meistererzählers Mo Yan.
"Abstimmung mit den Augen" - Chinesische Gegenwartsliteratur zeigt, wie
es anders gehen kann Welches Werk in China zum Bestseller wird, entscheiden die Leser
direkt - und zwar über das Internet. Der Buchmarkt in China
funktioniert anders als in Deutschland: Die Autoren sind zunächst
Blog-Schreiber. Erst wenn sie in ihrem Blog ein Millionenpublikum
täglich binden können, werden die Verlage auf sie aufmerksam. Und die
Statistiken der Web-Leser offenbaren ganz brutale Kriterien der
Literaturbewertung: Authentizität, Unterhaltungswert, Interaktion (etwa
durch Leserbefragungen) und Originalität. Originalität schließt
übrigens Plagiate nicht aus. Denn was in China ganz ungefiltert durch
Literaturkritik, schlicht durch die "Abstimmung mit den Augen", mit dem
eigenen Leseverhalten, das statistisch im Netz überwacht wird,
geschaffen wurde, ist ein urkapitalistischer Markt, ein freies Spiel
von Angebot und Nachfrage, es gibt keine Instanz mehr, die sagt, was
"hohe Literatur" ist und was Kitsch, was Voyeurismus, Pornographie und
Selbstfindung und -verwirklichung ist. Wer in diesem Haifischbecken
überlebt, hat es geschafft. Als Belohnung winkt ein Verlagsvertrag und
nicht selten steht auch schon die Plattenfirma da, egal ob der so zu
Bekanntheit gekommene singen kann oder nicht. Und der Sprit, der alles
antreibt, ist die Gier nach Geld, danach, ganz groß rauszukommen. ...